Trübsal einer Straßenbahn

Für Joseph Roth

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Starker, anhaltender Regen. Man könnte mich fast beschuldigen, das Wetter aus Irland mitgebracht zu haben. Seit ich in Allenstein/Olsztyn angekommen bin, ist es entweder kalt und grau oder schwül und regnerisch. Heute ist es letzteres, und ich kann keinerlei Motivation finden, irgend etwas zu arbeiten. Den ganzen Morgen höre ich die Straßenbahnen klingeln, wenn sie die Haltestelle gegenüber dem Hohen Tor verlassen, also gebe ich endlich nach. Ich fahre mit der Straßenbahn.

Ich gehe durch das Stadttor und finde passenderweise einige alte Straßenbahnschienen, die hier in das Pflaster eingebettet sind. Bis 1965 fuhren die Stadtbahnen durch das Tor, auf ihrem Weg zur Endhaltestelle am Langen See/Jezioro Długie. Allenstein/Olsztyn hatte seit 1907 eine Straßenbahn, aber wie in vielen Orten in Europa, egal auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs, hat man sich dann dafür entschieden, dass Autos und Busse, die für immer Brennstoffe aus Dinosaurierknochen verbrennen werden, das Verkehrsmittel der Zukunft sind und die Schienen sonst überall in der Stadt herausgerissen.

Eine neue Straßenbahn kommt. Die neuen Straßenbahnen sind modern und grün und grau und fahren seit 2015 wieder. Ein 24-Stunden-Ticket kostet 10 Zloty, und ich halte das für einen guten Preis für ein Beförderungsmittel, das keinen fossilen Brennstoff benutzt. Die neuen Straßenbahnen verbinden die Altstadt mit dem Vorort Jaroty, Jaroty mit der Universität, die Universität mit dem Hauptbahnhof.

Meine Straßenbahn ist nie leer. Wenn ich tagsüber fahre, sitzt und steht hier immer eine gute Mischung aus jungen Menschen, nicht so jungen, nicht so alten, alten. Gegenüber von mir sitzt ein Mann im blauen Jogginganzug und mit Kopfhörern, auf dem Schoss eine leere blaue Plastiktasche von IKEA, und ich kann mir schon denken, wo er hin will. Aber zuerst zuckelt meine Straßenbahn den Berg am alten wilhelminischen Wasserturm aus rotem Backstein aus dem Jahr 1899 hoch, in dem heute das Observatorium untergebracht ist. Dann biegt die Straßenbahn in die Obiegowa, einer der Hauptverkehrsstraßen von Allenstein/Olsztyn. Ein paar Haltestellen weiter, und ich bin mir sicher, wohin der junge Mann will. Ein Ort, an dem der geneigte Straßenbahnfahrer all das findet, was er braucht und vielleicht noch ein bisschen mehr, ein kommerzielles Wunderland. Dominiert von französischen und deutschen Franchises und Markennamen wie Auchan, OBI, Media Markt und Rossmann, ist die Gegend um das Galleria Warmińska Einkaufszentrum, die Allensteiner/Olsztyner Inkarnation aller langweiligen und hässlichen globalen Konsumzentren, und ich bin froh, als die Straßenbahn weiter fährt. Der junge Mann geht Richtung OBI.

Meine Straßenbahn fährt durch die neuen und alten Vororte, und es scheint, dass Allenstein/Olsztyn nur auf den Hügeln wächst und das Grün des Waldes in den Bachtälern weiter bestehen darf. Dann steigt jemand ein, den ich für einen Obdachlosen halte. Seine zu große Hose und sein Hemd sind voller Schmutzspritzer, seine Hände bedeckt von ausgeblichenen Tätowierungen. Als er vorbeigeht, halten die beiden älteren Damen neben mir hörbar den Atem am. Ich frage mich warum, und dann trifft der Gestank von altem und eingetrocknetem Urin auch meine Nase. Ich frage mich, ob der Mann seinen eigenen Geruch wahrnimmt. Er wirkt nicht betrunken oder verwirrt, sondern einfach wie jemand, der seine Kleidung schon sehr lange nicht mehr hat waschen können. Aber bevor ich weiter über ihn nachdenken kann, verlässt er die Straßenbahn, zur sichtbaren Erleichterung der beiden Damen.

Wie alle Straßenbahnen endet auch meine. Als wir in Kanka ankommen, der Endhaltestelle der Linien, denke ich mir, dass die Haltestelle der perfekte Ort für eine Berliner Wurstbude wäre, die Currywurst verkauft und Pommes und Bier in 0,3-Liter-Flaschen. Es ist Zeit fürs Mittagessen. Einen Moment denke ich darüber nach, mir im Żabka auf der anderen Straßenseite einen Hot Dog zu kaufen, aber dann fällt mit ein, dass sie am Hauptbahnhof hervorragende Zapiekanki verkaufen. Ein leerer Magen ist ein genauso guter Grund mit der Straßenbahn zu fahren wie jeder andere, also steige ich wieder in die Linie 2.

The Melancholy of a Tram Car

For Joseph Roth

Strong, persistent rain. One could almost accuse me for having brought the weather from Ireland with me. Since the day I arrived it has either been cold and overcast or muggy and raining. Today it is the latter, and I cannot find motivation to work. All morning I hear the trams ringing when they leave the stop at Wysoka Brama, so I finally give in and decide to ride a tram myself.

I walk through the city gate which also has, fittingly, some old tram tracks embedded in the pavement here. Until 1965, the city trams ran through the gate on their way to the final stop at Długie lake. Olsztyn had a tram since 1907, but like in many other places in Europe, regardless of what side of the Iron Curtain, everyone thought that cars and buses burning dinosaur bones forever were the thing for the future, so they ripped the remaining tracks out.

A new tram arrives. The new trams are modern and green and grey and run again since 2015. A 24 hour ticket costs 10 złoty, and I think that is a good price for a mode of transport that does not burn fossil fuels. The new trams connect the old town with the suburb of Jaroty, Jaroty with the university, the university with the main station.

My tram is never empty. There is always a good mix of people here when I travel during the day, young, not-so-young, not-so-old, old. Across the aisle from me is a young man in a blue tracksuit wearing headphones and holding an empty blue IKEA bag, and I already guess where he is going. But first our tram chuffs up the hill past the astronomical observatory, which is located in an old Wilheminian red-brick water tower from 1899. Then the tram turns into Obiegowa, one of the the main thoroughfares of Olsztyn. A few stops, and I am sure where the young man is going. A place where the well-disposed tram rider will find everything he needs to buy, a commercial wonderland. Dominated by French and German brand and franchise names like Auchan, Obi, Media Markt and Rossmann, the area around the Galeria Warmińska mall is the Olsztyn version of all the bland commercial shopping centres around the globe, and I’m happy when the tram sets off again. The young man aims for Obi.

My tram continues on towards the final stop in Jaroty, and the new and old estates and suburbs start mixing with the forest that grows everywhere in the valleys of Olsztyn – the city only ever grows on its hills. Then what I think is a homeless man, or a bum, gets on the train. His too-large trousers and shirt are splattered with dirt, his hands are covered in bleached-out tattoos and as he walks past the two elderly ladies sitting next to me audibly hold their breath. I wonder why they do it, until the smell of old and dry urine hits me and I have to pinch my nose. I wonder if the man is aware of his own smell. He does not seem drunk or mad, just like someone who hasn’t had the chance to wash his clothes for a very long time. But before I can think more about him and his story, he leaves again, to the audible relief of the two ladies.

Like all trams, my tram ends. As we stop at Kanka, the final stop of the line, I think that this would be the perfect place for a Berlin-type sausage stand that sells Currywurst and chips and beer in 0.3 litre bottles. It is time for lunch. For a moment, I consider a hot dog from the Żabka across the road, but then I remember that they sell excellent zapiekanki at the main station. An empty stomach is reason enough to take the tram, and I hop on line number 2. Back through the rain.

3 Gedanken zu „Trübsal einer Straßenbahn“

  1. Schöne Miniatur Herr Krueger,
    noch mehr Miniatur das dazugehörige Filmchen. Das fast zu kurz. Wohingegen der Text doch viele große Bögen ermöglicht, und seien’s nur gedankliche. Hoffe es geht gut, wo auch immer unterwegs…

  2. Hallo Herr Krüger,

    „Per Zufall“ hatte ich den literarischen Reiseführer zu Danzig vom deutschen Kulturforum in meiner Buchhandlung bestellt und auf der Masurenreise dann Sie und das schöne, aber auch irritierende Gebäude der jüdischen Gemeinde kennen gelernt(22./23. Mai). Nun tauche ich so richtig in die osteuropäische Themenwelt ein , verbinde Sie mit meiner eigenen Familiengeschichte und wäre froh, wenn es auch im heute russischen Gumbinnen einen Stadtschreiber gäbe. Dort lebte die Familie meiner Schwiegermutter, Besitzer der Glaserei Guthan-Hirsch, vielleicht hören Sie mal etwas davon ? Ich würde mich dann sehr über eine Mail freuen!

    Viel Freude bei Ihrem Aufenthalt in Allenstein und Grüße aus Norddeutschland:-)

    Jutta Mischkowski

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