Allensztyn

To the English version

Meine Zeit in Allenstein/Olsztyn geht leider jetzt im September zu Ende. Dieser Text ist Teil eines längeren Essays über die Stadt, an dem ich gerade arbeite, und spiegelt ein wenig meine Erfahrungen und Gefühle der letzten Monate wieder.

Das war nie meine Stadt,
Ich bin hier nicht geboren oder aufgewachsen
Und auch nicht zur Schule gegangen und sie will nicht nicht
Lebendig oder tot
Aber sie hält mich in ihrem Bann
Mit ihrer schäbigen Eleganz
Mit ihrem sanften Regen
Und all ihren Geister, die hier umher gehen

Louis MacNeice, Dublin

Eingerahmter teufel flüsse buchläden stiche und theater
treppen zu gemütlichen cafes weinranken und gekühlte Flaschen
rauch aus vergessenen vernichtungslagern und vernebelte klöster
bedeutende gemälde königliche vasen reliquienschreine der macht

Kazimierz Brakoniecki, Das Europa der Mitte

Nachts wachen die blinkenden roten Augen des Maszst na Pieczewie Funkmastes über die Stadt wie die Augen eines nervösen Riesen, der nicht schlafen kann. Vielleicht ist sein Gegenpol die Meerjungfrau der Alle/Łyna aus Beton in der Altstadt, eine freundlichere weibliche Hüterin der Stadt, die von all den betrunkenen Nachtschwärmern, die sie am Freitagabend ignorieren, vollkommen unbeeindruckt bleibt. Eine bessere als der arme, touristisch überstrapazierte Kopernikus ist sie allemal.

Das Geräusch meiner Stadt sind die Sirenen der Krankenwagen, der pulsierende Bass der tiefergelegten Autos, die an den Wochenenden langsam durch die Altstadt zuckeln, das Tschack Tschack der Dohlen, das Gemurmel der deutschen Touristen am frühen Morgen, denen das Wysoka Brama vom Reiseführer vorgestellt wird. Der Geruch meiner Stadt ist das organische Metall des Flusses, Meerjungfrauen hin oder her, saurer Kohl und Dill, Abgase und geschmolzenes Słony Karmel-Eis von Krocek auf den Bürgersteig.

Meine Stadt ist ein angenehmer Ort, eine Militär- und Arbeiterstadt als es Allenstein in Ostpreußen war, ein Ort, der sich selbst genug war und sich nie als wichtiger oder besser herausstellen musste als beispielsweise Danzig oder Königsberg. Heute ist es Olsztyn, die Hauptstadt der Woiwodschaft, ein Ort, der sich selbst genug ist und sich nie als wichtiger oder besser herausstellen muss als beispielsweise Gdańsk oder Warschau. Hier leben Träumer und Realisten, Idealisten, die das deutsche und polnische und jüdische und tatarische Erbe am Leben erhalten, Menschen, die ernsthaft glauben, dass Lesben und schwule und transsexuelle Menschen genau wie Faschisten und Kommunisten sind, Taucher, die Bücher und Schreibmaschinen lieben, Studenten aus kleinen Dörfern, die noch nie in ihrem Leben in einem Nachtclub waren, Koloratursopranistinnen und Straßenbahnfahrer, Englischlehrer und ukrainische Urban Explorer, mein Vater, der weinte, als er seinen polnischen Cousin traf, den er 1976 das letzte Mal gesehen hatte. Und wisst ihr was? Allenstein war genauso.

Allensztyn

This never was my town,
I was not born or bred
Nor schooled here and she will not
Have me alive or dead
But yet she holds my mind
With her seedy elegance,
With her gentle veils of rain
And all her ghosts that walk

Louis MacNeice, Dublin

Framed devil rivers bookshops etchings and theatre
steps down to cozy cafes vine tendrils and cold bottles
smoke from forgotten death camps and obfuscated monasteries
important paintings royal vases reliquary caskets of power

Kazimierz Brakoniecki, Central Europe

At nights, the blinking red eyes of the radio mast Maszst na Pieczewie watch over the city like those of a nervous giant that cannot sleep. Maybe his counterpart is the concrete Łyna mermaid in the old town, a more friendly female guardian of the city that is unfazed by the drunken revellers ignoring her on Friday nights. A better one than poor overused Copernicus they both surely are.

The sound of my city are the sirens of the ambulances, the throbbing bass of the tuned cars slowly cruising through the old town on the weekends, the tshack tshack of the jackdaws, the early-morning German tourists being introduced to the Wysoka Brama by their tour guides. The smell of my city is the organic metal of the river, mermaids or not, sour cabbage and dill, exhaust fumes and Slowly Karmel ice cream from Krocek dropped on the pavement.

My town is pleasant place, a place that was a military and working class city when it was Allenstein in East Prussia, a place that did not need to flaunt its unique selling points and never pretended to be more important or better than, say, Danzig or Koenigsberg. It was a city that was self-sufficient. It is Olsztyn today, an administrative and working class city, one that does not need to flaunt its unique selling points and never pretends to be more important or better than, say, Gdańsk or Warsaw. It is inhabited by dreamers and realists, by idealists who keep alive the German and Polish and Jewish and Tatar heritage of this place, by people who honestly think that lesbians and gay and transsexual people are like fascists and communists, by divers who love books and typewriters, by students from small villages who have never been to a nightclub before, by coloratura sopranos and tram drivers, by English teachers and Ukranian urban explorers, by my dad who who cried when he met his Polish cousin he had seen the last time in 1976. And you know what? Allenstein was exactly the same.

2 Gedanken zu „Allensztyn“

  1. zu laufen,wo Mutter gespielt hat..
    Zu stehen, wo sie gefeiert hat…
    Zu sehen,wo sie am See gelegen hat…
    Zu hören, wie sie mit meinem Opa bei der Feldarbeit,gesungen hat…
    DAS ALLES ist so faszinierend gewesen….so tief…so bewegend.

    Zu spüren das ein grosser Teil meiner Geschichte ,meine Wurzeln ich erleben durfte…einmalig.
    Geboren und aufgewachsen in Solingen…und trotzdem fühle ich mich mit den Orten,mit der Gegend,mit den Wäldern,mit den Seen so verbunden.

    Lothar Krüger

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

RSS
Follow by Email
Instagram