Praktizierende

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Spaziergänger sind „Praktizierende der Stadt“, denn die Stadt ist zum Laufen gemacht. Eine Stadt ist eine Sprache, eine Ansammlung von Möglichkeiten, und der Spaziergang ist der Akt, diese Sprache zu sprechen und aus diesen Möglichkeiten auszuwählen. So wie die Sprache das Gesagte einschränkt, beschränkt die Architektur das Gehen, aber der Spaziergänger findet andere Wege.

Rebecca Solnit, Wanderlust: Eine Geschichte des Gehens

Ich gehe gern. Das mag seltsam klingen, da ja jeder von uns tagtäglich seine Füße bewegt. Aber ich denke, dass wir heutzutage einfach nicht genug gehen – und vor allem nicht bewusst genug. Oder, wie der Schriftsteller und Publizist Paul Sullivan in seinem Essay „Walking the City“ (Die Stadt erlaufen) schreibt:

Wie jemandem einen Brief von Hand zu schreiben, spontan einen Freund zu besuchen oder einfach auf einer Bank zu sitzen und zu beobachten, wie die Welt vorbeizieht: es ist eine der simplen Freuden des Lebens, sich langsam durch die Straßen der Stadt zu schlängeln, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben – und eine fast völlig verloren gegangene Kunst. Während die meisten von uns argumentieren würden, dass wir immer bis zu einem gewissen Grad durch die Stadt laufen, zur Post, durch den Park, um den Block herum, ist es aber eine Kombination von Faktoren – vor allem ein allgemeines Freizeitdefizit und eine Fülle von bequemem Optionen des öffentlichen Nahverkehrs – die dafür sorgen, dass wir meistens zu Fuß nicht weit kommen.

Während meiner ersten Woche in Allenstein/Olsztyn habe ich also das gemacht, was ich immer tue wenn ich etwas über einen neuen Ort erfahren will: Ich bin spazieren gegangen. Jeden Tag, obwohl ich ein paar Mal mit dem Bus oder der Straßenbahn geschummelt habe. Zuerst zog ich mit den Füßen Kreise in und um die Altstadt und erkundete die Hauptverkehrsstraßen und Einkaufszentren, aber auch die Seitenstraßen und Gassen der Stadt und die Vororte.

Für mich, der in Allenstein/Olsztyn jetzt in zentraler Lage und ohne Auto lebt, ist es eine Stadt die zum Spazierengehen geradezu einlädt. Die neuen Parks entlang der Alle/Łyna sind angenehme Orte, und am sonnigen Freitagnachmittag hockten dort Studenten und Teenager unter den Brücken oder auf den Holzstufen am Wasser, schlürften aus Bierdosen und rauchten; Büroangestellten in der Mittagspause saßen auf Bänken und leckten Eis, und Eltern schoben gemächlich Buggys auf den Wegen links und rechts des Flusses entlang.

Von den Parks ging ich dann nach Norden, vorbei an der Burg aus dem Jahr 1346 und der Warmia-Brauerei in einer ehemaligen Mühle von 1868, und schließlich unter den Eisenbahnviadukten aus den Jahren 1871 und 1893 und den neuen Straßenbrücken dahinter durch.

Jedes Mal, wenn ich die Viadukte sehe, erinnere ich mich an Robert Budzinkis humorvolles Buch „Die Entdeckung Ostpreußens“. Budzinski (1874-1955) war Maler, Grafiker und Autor und veröffentlichte 1913 sein „Reisebuch“, das nicht nur wunderbare Holzschnitte enthält, sondern sich auch leicht über Ostpreußen als die sprichwörtlich ferne Ostprovinz lustig macht – und das obwohl Budzinski selber in Klein-Schläfken/Sławka Mała in Ostpreußen geboren wurde. Er listet auch die oft exotisch klingenden ostpreußischen Ortsnamen auf, bevor sie 20 Jahre später von den Nationalsozialisten „germanisiert“ wurden:

Bei meinen Wanderungen stieß ich wiederholt auf Ortschaften mit nicht sehr bekannten, aber desto klangvolleren Namen, so dass ich oft glaubte, mich in einer verzauberten Landschaft umherzutreiben. So fuhr ich einmal mit der Bahn von Groß-Aschnaggern über Liegentrocken, Willpischken, Pusperschkallen nach Katrinigkeiten, frühstückte in Karkeln, kam über Pissanitzen […] Bammeln, Babbeln und abendbrotete in Pschintschikowsken, übernachten wollte ich in Karßamupchen […]

Das Buch ist bis heute in gedruckter Form erhältlich, was meines Erachtens ein Beweis für seinen bis heute gültigen Humor und sein Können als Künstler ist. Unter den Brücken hindurch machte ich mich dann auf durch den Stadtwald, wobei die Alle/Łyna zu meiner Rechten zunehmend breiter wurde und nur gelegentliche Fahrradfahrer meine Einsamkeit störten. Ich mag es, draußen zu sein, spazieren zu gehen und mich ein wenig vom Tosen der Welt zu entfernen. Oder, wie Walter Benjamin in „Berliner Kindheit um 1900“ schreibt: „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.“ Das Schöne an Allenstein/Olsztyn ist, dass der richtige Wald nie weit ist – also kann ich mich sowohl in der Stadt als auch hier verirren. Die Dame, die mir mit ihren Hund auf dem Waldweg entgegen kam, schien jedoch mit meiner Waldeinsamkeit nicht einverstanden zu sein: sie warf mir über den Rand ihrer Sonnenbrille einen Blick zu, der eindeutig darauf hindeutete dass nur Idioten mitten im Wald stehen und in Notizbücher kritzeln.

Ich lief noch etwa 30 Minuten, bevor ich mich entschied, das Alle/Łyna-Tal zu verlassen und in die Innenstadt zurückzukehren. Ich erklomm also den Waldhang rechts des Flusses und stieß auf das alte Leśny-Stadion, das jetzt fast vollständig vom Gras und den Bäumen zurückerobert wurde. Hier hat Leichtathlet Józef Szmidt (das sogenannte „Schlesische Känguru“, geboren 1935 und Ehrenbürger von Olsztyn) 1960 den Weltrekord für Dreisprung gebrochen, und zwar mit einer Weite von 17,03 Metern. Und ich fragte mich, ob der weiche Torfboden hier etwas damit zu tun hatte.

Etwas weiter stieß ich auf ein Graffiti von drei Rittern auf einer Wand, vielleicht ein harmloses Abbild der Ritter des Deutschen Ordens, die diese Wälder vor langer Zeit heimgesucht hatten. Eine nicht ganz so harmlose Erinnerung an die gewalttätige Vergangenheit fand ich weiter die Strasse hinauf: zwei Ehrenfriedhöfe, ein deutscher mit Toten aus beiden Weltkriegen, restauriert und gepflegt von der Allensteiner Gesellschaft Deutscher Minderheit: Männer mit dem Todesjahr 1914 liegen neben Männern mit den Geburtsjahr 1914. Der andere Friedhof ist ein kleiner russischer Grabplatz ohne Grabsteine oder -kreuze, aber mit einem deutschen Gedenkstein aus dem Jahr 1914 mit der Inschrift:

Hier ruhen russische Soldaten, die dem Gebote ihres Herrschers folgend im Kampfe gegen die Befreier Ostpreußens den Tod erlitten und fern von ihrer Heimat beigesetzt sind

Die Errichtung dieses Steins erscheint mir jetzt, in der Gegenwart, wie eine vergebliche ehrenvolle Geste die es nur zu Anfang des Krieges hat geben können, bevor der industrialisierte Massenmord an der Somme, in Verdun und während der Brussilow-Offensive alle Menschlichkeit vollends ausradierte.

Als ich von den Friedhöfen zurück ging war mein Kopf voller düsterer Gedanken, aber Zufall, Sonnenstrahlen und die Stadt munterten mich wieder auf: neben mir hielt ein Pizzataxi und zwei junge Mädchen kamen aus dem Wald, mysteriöserweise angetan mit weißen Plastikantennen auf dem Kopf und weißen Plastikflügeln auf dem Rücken. Sie bezahlten die Pizza, nahmen die Kartons und hüpften zurück in den Wald, zurück zum allerersten Feen-Pizza-Picknick dieses Frühlings in Allenstein/Olsztyn.

Practitioners

Walkers are ‚practitioners of the city,‘ for the city is made to be walked. A city is a language, a repository of possibilities, and walking is the act of speaking that language, of selecting from those possibilities. Just as language limits what can be said, architecture limits where one can walk, but the walker invents other ways to go.
― Rebecca Solnit, Wanderlust: A History of Walking

I like walking. This seems to be an odd statement, given that anyone does that on a daily basis. But I think we don’t walk enough these days, and not consciously enough. Or, as writer and editor Paul Sullivan writes in his essay Walking the City:

Like writing someone a letter by hand, visiting a friend across town spontaneously or just sitting on a bench and watching the world go by, the act of meandering slowly through the city streets with no particular destination in mind is one of life’s simple pleasures – and an almost entirely lost art. While most of us would argue that we do stroll through the city to some extent – to the post office, through the park, around the block – a combination of factors, chief among them a general deficit of leisure time and an abundance of convenient public transport options, conspire to ensure we usually don’t get very far on foot.

So during my first week in Olsztyn I did what I always do when I want to learn about a place: I went for a walk. I actually went on a walk every day, though some days I cheated by taking a bus or the tram. I first drew circles in and around the old town with my feet, exploring the main thoroughfares and shopping centres, but also the back alleys, laneways and suburbs of the city.

For me, someone who is now living in a central location and without a car, Olsztyn really is a city that lends itself to walking. The new parks along the Łyna river (the German Alle) are pleasant places to stroll and to linger, and on Friday afternoon there where students and teenagers sitting under bridges or on the wooden steps that lead down to the water, swigging from beer cans and smoking; office workers on their lunch break sat on benches and licked ice cream, parents leisurely pushed buggies along the pathways left and right of the river.

From the parks, I then walked northwards, past the castle from 1346 and the Warmia brewery from in a former mill building from 1868, and finally under the railway viaducts from 1871 and 1893 and the newer road bridges into the city forest proper. Every time I see the viaducts I’m reminded of Robert Budzinki’s tongue-in-cheek travel book ‚Die Entdeckung Ostpreußens‘ (The Discovery of East Prussia).

Budzinski (1874 -1955) was a painter, graphic artist and author, and – even though he himself was born in East Prussia in Klein-Schläfken (Sławka Mała today) – in 1913 published his ‚travel book‘ which is not only full of wonderful woodcuts, but also sardonically talks about East Prussia as the proverbial distant eastern province. He also records the often exotic-sounding East Prussian place names, before they were ‚Germanised‘ by the Nazis 20 years later:

During my wanderings I continuously discovered places with not very known but quite illustrious names; so that I often thought I was roving about in a magical landscape. One day I took the train from Groß-Aschnaggern to Liegentrocken, Willpischken, Pusperschkallen and Katrinigkeiten, breakfasted in Karkeln, arrived in Pissanitzen, Bammeln, Babbeln, and had dinner in Pschintschikowsken while aiming to overnight in Karßamupchen.

The book remains in print until today, which I think is a testament to his enduring humour and skill as an artist. From under the bridges then I made my way into the city forest proper, with the Łyna growing wider to my right and only the occasional biker disturbing my solitude. I like to be out, walking, slightly removed from the noise of the world. Or, as Walter Benjamin writes in ‚Berlin Childhood around 1900‘, ‚Not to find one’s way around a city does not mean much. But to lose one’s way in a city, as one loses one’s way in a forest, requires some schooling.‘ The beauty of Olsztyn is that the forest proper is never far – so I can train to get lost both here and in the city. The lady walking her dog just that came towards me on the forest path did not seem to agree with my Waldeinsamkeit: the look she gave me over the rim of her sunglasses seemed to suggest that only idiots stand in the middle of a forest and scribble in notebooks.

I continued for another 30 minutes before I decided to leave the Łyna valley and loop back to the city centre. I walked up the wooden slope right of the river and came across the Leśny Stadium, now almost completely reclaimed by grass and trees, where athlete Józef Szmidt (the so-called ‚Silesian Kangaroo‘, born in 1935 and an honorary citizen of Olsztyn today) broke the world record for triple jump in 1960 with a length of 17.03 metres. I wonder if the soft peat soil here had something to do with that. Further on, I came across a graffiti of three knights on a wall, maybe a harmless reflection of the Teutonic Knights that haunted these woods long ago.

A not so harmless reminder of the violent past was just up the road – two cemeteries of honour, one a German one with dead from both World Wars that was restored and is looked after by the German Minority Association of Olsztyn, with men who died in 1914 lying next to men who were born in 1914; and the other a small Russian plot, with no headstones left but a German memorial set up in 1914 that reads:

Here rest Russian soldiers who followed the orders of their ruler, found their death fighting against the liberators of East Prussia and are now buried far from their home

It seems a futile honourable gesture, something that would have surely not been set up following the industrialised mass murder of the Somme and Verdun and during the Brussilov offensive, which surely eradicated all humanity left then.

When I walked back from the cemeteries, my head full of somber thoughts, chance and sunlight and the city cheered me up: a pizza taxi stopped near the forest entrance and two teenage girls emerged from the woods, inexplicably wearing white plastic antennae and white plastic fairy wings. They paid for the pizza and skipped back into the woods, to what I can only imagine must have been the first fairy pizza picnic of spring in Olsztyn this year.

2 Gedanken zu „Praktizierende“

  1. Die Strecke von den Viadukten in den Stadtwald und entlang der Alle ist wirklich super. Aber Feen habe ich dort noch nie gesehen – vielleicht ist das nur dem echten Musensohn vergönnt…

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