Franz

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Einer der Hauptgründe, warum ich mich für das Stadtschreiberstipendium beworben habe, ist Franz.

Bevor ich anfing an dem Buch über meine Großmutter Cilly zu arbeiten, wusste ich nicht, dass dieser Mann überhaupt existiert hat. In meiner Familie gab es Gerüchte über einen von den Nationalsozialisten getöteten Verwandten, getötet als Widerstandskämpfer vielleicht oder im Chaos des letzten Kriegsjahres. Bei meinen Nachforschungen stellte ich jedoch fest, dass der Halbbruder meiner Großmutter, Franz Nerowski, vor 1939 ein Spion für Polen gewesen war und dafür sein Leben gelassen hat.

Franz wurde 1911 in Lengainen/Łęgajny in eine Bauernfamilie geboren. Ich weiß nicht viel über seinen Vater, von dem er den Familiennamen Nerowski geerbt hat. Franz‘ Vater ein halber Pole, ein Mann, der im Ersten Weltkrieg ums Leben kam. Nach dem Krieg heiratete meine Urgroßmutter erneut, und aus diesem Grund hat meine Großmutter einen anderen Nachnamen als Franz – sie wurde als Barabasch geboren.

Franz identifizierte sich schon früh als Pole, obwohl einen deutschen Pass hatte. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete er als Lehrer, unter anderem auch in Allenstein/Olsztyn, möglicherweise am Polnischen Haus in der Stadt, dem Zentrum der polnischen kulturellen und wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region in der Zwischenkriegszeit. In seiner Freizeit betätigte er sich als Folkloresammler und erforschte lokale polnische Märchen und Sagen, mit dem Plan ein Buch darüber zu veröffentlichen. Er gehörte auch zu den frühen Mitgliedern des Ortsverbandes des „Bundes der Polen in Deutschland“.

Die Familie Nerowski-Barabasch Anfang der 30er Jahre: Franz (mit fragwürdigem Haarschnitt), Otti, meine Großmutter Cilly mit erschrecktem Gesichtsausdruck, meine Urgroßmutter Ottilie, Bruno, Lucie, Otto.

1935 zog er nach Berlin und begann bei der Slawischen Bank zu arbeiten, der Bank Słowiański in der Zentrale des Bundes der Polen in Deutschland in Schöneberg. Ein Jahr später wurde er in die Wehrmacht eingezogen. In Berlin wird Franz jedoch auch vom polnischen Geheimdienst angeworben und willigt ein, seine Armeeeinheit auszuspionieren. Sein selbst gewählter Codename ist Późny, „Spät“.

Er liefert Kopien seines Soldbuches, Details über die Kasernen und Einheiten in Ostpreußen und weitere Informationen. 1937 endet sein Dienst und Franz kehrt nach Berlin zurück. 1939 wird er erneut in die Wehrmacht eingezogen und dient während der Invasion Polens (!) und Frankreichs. Während des polnischen Feldzugs erbeuten die deutschen Streitkräfte die Akten des polnischen Geheimdienstes, die natürlich auch Einzelheiten zu den Spionageaktivitäten von Franz beinhalten. Im Jahr 1941 wird er während eines Heimaturlaubs verhaftet und nach Berlin gebracht, wo alle Fälle von Militärverrat vor einem Wehrmachtsgericht verhandelt werden. Franz befindet sich über ein Jahr in Untersuchungshaft, wahrscheinlich im Gefängnis Berlin-Plötzensee.

Am 10. Juli 1942 wird Franz vom Reichskriegsgerichts der Wehrmacht zum Tode verurteilt. Er wird zum Polen erklärt, oder wie sein Urteil besagt: „Reichsdeutscher aber polnischer Volkszugehörigkeit“. Ich denke, dass ihm das gefallen hat. Seine Besitztümer und Ersparnisse werden beschlagnahmt.

Franz wird in das Zuchthaus Brandenburg-Görden gebracht, das nach Plötzensee zu den Haupt-Hinrichtungststätten im Deutschen Reich gehört. Die Hinrichtungen wurden nicht angekündigt, so dass Franz und die anderen Insassen endlose Tage damit verbrachten, auf das Geräusch des Schlüssels in ihren Zellentüren zu warten. Sobald der Hinrichtungstermin feststand, mussten die Verurteilten Stunden oder sogar die ganze Nacht vor ihrer Hinrichtung gefesselt in einer speziellen Zelle verbringen.

Am 21. August 1942 wurde mein Großonkel aus seiner Zelle im brandenburgischen Gefängnis in einen langen Korridor gebracht, wo er mit vier anderen Gefangenen in einer kurzen Warteschlange wartete. Hinrichtungen fanden an einem Montag statt, was bedeutete, dass alle Straftäter, die an diesem Tag aus ihren Zellen geführt wurden, auf einer Treppe in einer Reihe warten mussten, bis ein Wachmann „Der Nächste!“ rief und sie in die Hinrichtungskammer geführt wurden. In der Hinrichtungskammer las ein Schreiber das Urteil von Franz vor – er wurde zum Spion und Verräter erklärt – und dem örtlichen Priester wurde ein Gebet erlaubt, bevor mein noch gefesselter Großonkel auf die Guillotine gelegt und enthauptet wurde. Der gesamte Vorgang dauerte nur wenige Minuten. Franz Nerowski war 31 Jahre alt, als er starb.

Heute wird an Franz als polnischer Kämpfer gegen die Nationalsozialisten mit einer Gedenktafel auf der Burg in Allenstein/Olsztyn erinnert. Auch das hätte ihm gefallen.

Während meines Aufenthaltes in Allenstein/Olsztyn werde ich die Details im Leben von Franz Nerowski weiter erforschen, seine Überzeugungen und Erinnerungen, die Orte, an denen er lebte; genauso wie die wechselhaften Identitäten meiner Familie, die beispielhaft sind für die wechselhaften Identitäten von Ermland-Masuren. Um dann mein nächstes Buch über ihn zu schreiben.

Wenn jemand Auskunft über Franz geben kann, sei es im Zusammenhang mit seinem Arbeitsplatz im polnischen Haus oder dem Bund der Polen in Deutschland, seiner Dienstzeit in der Wehrmacht oder seinem Familienleben, wenden Sie sich bitte an krueger@kulturforum.info. Vielen Dank.

Franz

One of the reasons why I applied for the writer-in-residence stipend in Olsztyn is Franz.

Before I started working on the book about my grandmother Cilly, I never knew this man existed. There had been rumours in the family, about a relative killed by the Nazis, as a resistance member perhaps, or in the chaos of the last war year. But what I instead found out during my research was that the half-brother of my grandmother, Franz Nerowski, had been a spy for Poland before 1939.

Franz was born in 1911 in Lęgajny into a family of farmers. I don’t know much about his father, from which he inherited the Nerowski family name. As far as I know Franz‘ father was half a Pole, a man who perished in World War I. After the war, my great-grandmother married again, and this is why Franz and my grandmother do not share a last name -she was born a Barabasch.

Franz identified himself as Polish from early on (while having a German passport). After finishing his studies, he worked as a teacher in East Prussia, amongst other also in Olsztyn, potentially at the Polish House in the city, the center of Polish cultural and economic activities in the area during the interwar years. In his free time he gathered local Polish folktales to form a book. He was also one of the early members of the local chapter of the ‚Association of Poles in Germany‘.

In 1935 he moved to Berlin and began working for the Slavic Bank, a Polish bank located at the headquarter of the association in the Schöneberg neighbourhood. One year later he was drafted into the Wehrmacht. In Berlin, Franz is also secretly approached by the Polish secret service and agrees to spy on his army unit. His self-chosen code name is Późny, ‚Late‘.

He provides copies of his pay book, details about his barracks in East Prussia and so on. In 1937 his service ends, and Franz returns to Berlin. In 1939, he is re-drafted into the Wehrmacht and serves during the invasion of Poland (!) and France. During the Polish campaign, the German forces capture the files of the Polish secret service, including details about Franz‘ activity. In 1941, Franz is arrested while on home leave & brought to Berlin, where all cases of military treason are tried in a Wehrmacht court. Franz is in custody for over a year while awaiting trial, most likely in the Berlin-Plötzensee prison.

Excerpt from Franz‘ file, courtesy of Wojskowe Biuro Historyczne, the Polish Military Archives

On July 10th, 1942, Franz is sentenced to death by the Reichskriegsgerichts, the military court of the Wehrmacht. He is declared a Pole, or as his sentence states: ‚Imperial German but of Polish nationality‘. He will have liked that. His possessions and savings are confiscated.

Franz is then brought to Brandenburg prison, one of the main site of judicial execution in the German Reich after Plötzensee in Berlin. Normally, the Wehrmacht shot German military personnel like deserters and so on, but as Franz was ‚foreign spy‘ he was to be guillotined. The executions are not announced, so Franz and the other inmates spend endless days waiting for the turn of the key in their cells. Once taken, the condemned have to spend some hours or even the night before their executions shackled in a special cell.

On August 21st, 1942, my granduncle was brought from his cell in Brandenburg prison into a long corridor, where he waited in a short queue with four other prisoners. Executions were held on a Monday, meaning that all delinquents that day were led out of their cells, had to wait in a row on a staircase for a guard to call out ‚The next!‘ before they were led into the execution chamber. In the execution chamber a clerk reads Franz‘ verdict – he was declared a spy and traitor – and the local priest was allowed a prayer before my granduncle, still shackled, is put onto the guillotine and beheaded. The whole process takes only a few minutes. Franz Nerowski was 31 years old when he died.

Today, Franz is remembered with a plaque on the castle in Olsztyn as a Polish fighter against the Nazis. He would have liked that too.

So what I’m going to do while I’m here in Olsztyn is to research the details of Franz‘ life, his convictions and memories, the places he lived in; and also go explore the changeable identities of my family, which seem to be exemplary for the changeable identities of Warmia-Masury – and then to write my next book about him.

If anyone can provide information about him, either in connection with his work places or the Association of Poles, his time served in the Wehrmacht or his family life, please get in touch via krueger@kulturforum.info

3 Gedanken zu „Franz“

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